Kapitel 9 Inflation - der Konflikt zwischen Löhnen und Profiten
Ein zentraler Aspekt wirtschaftspolitischen Diskussionen dreht sich um die Veränderungsrate des durchschnittlichen Preisniveaus einer Ökonomie, die sogenannte Inflationsrate. Ein sich sehr schnell und stark veränderndes Preisniveau ist in der Regel mit destabilisierenden Auswirkungen verbunden. So können hohe und steigende Inflationsraten beispielsweise dazu führen, dass die Bevölkerung das Vertrauen in die Währung verliert und es zur Flucht in Sachwerte (oder in andere Währungen) kommt. Eine Deflation, d.h. allgemein fallende Preise, kann leicht zu einer tiefen Wirtschaftskrise führen oder eine solche verstärken, da Konsum- und Investitionsausgaben aufgeschoben werden und die realen Schuldenlasten von Unternehmen und Haushalten explodieren. Da in Kreditverträgen nominale Zinsen - und natürlich die nominale Rückzahlung des Kredits - vereinbart sind, müssen Schuldner*innen bei fallenden Preisen real immer mehr erwirtschaften, um ihren nominalen Zahlungsverpflichtungen nachzukommen. Die Realschulden steigen also und damit auch die Wahrscheinlichkeit, dass diese nicht mehr bedient werden können und es dann zu Insolvenzen und Bankrotten auf breiter Front kommt.
In diesem Kapitel wollen wir ein Verständnis für die Entstehung von Veränderungen des allgemeinen Preisniveaus entwickeln, d.h. für das Auftreten von Inflation oder Deflation. Im Allgemeinen wird die Inflation von uns als ein Prozess verstanden, der aus einem Verhandlungskonflikt zwischen Unternehmen und abhängig Beschäftigten über den angemessenen Reallohn resultiert. Inflation ist daher Ergebnis eines Verteilungskonflikts. Um dies zu verstehen, werden wir einfache Modelle der Reallohnziele von Unternehmen und abhängig Beschäftigten entwickeln. Im Zentrum der Entstehung von Inflation und Deflation steht die Verhandlungsmacht der jeweiligen Akteure. Im nächsten Abschnitt beginnen wir mit den Lohnforderungen der abhängig Beschäftigten.
9.1 Lohnverhandlungen auf dem „Arbeitsmarkt“ und die Reallohnziele der abhängig Beschäftigten
Für unser makroökonomisches Modell und die Beziehung zwischen Inflation und Löhnen brauchen wir ein aggregiertes Modell der Lohnverhandlungen auf dem „Arbeitsmarkt“. Die Löhne werden jedoch in der Regel auf Unternehmens- und Branchenebene und in einigen Fällen sogar für ganze Sektoren (z.B. den öffentlichen Sektor) ausgehandelt, in manchen Ländern auch für die Wirtschaft als Ganzes. Im Rahmen unseres makroökonomischen Modells sind wir an der Gesamtwirkung dieser Verhandlungen auf den durchschnittlichen Lohnsatz interessiert. Wir gehen also davon aus, dass die Einzelverhandlungen, auf welcher Ebene auch immer, aggregiert werden.
Das wesentliche Konzept, welches die Lohnforderungen der abhängig Beschäftigten in unserem Modell erklärt, sowohl auf Mikro- als auf Makroebene, ist die Verhandlungsmacht. Diese Verhandlungsmacht hängt dabei zum einen von institutionellen Bedingungen ab, wie z.B. dem gewerkschaftlichen Organisationsgrad (Gewerkschaftsdichte), dem Deckungsgrad von Tarifverhandlungen, dem Koordinierungsgrad von Gewerkschaften und Tarifverhandlungen, der Höhe und der Dauer von Lohnersatzleistungen, und der Kündigungsschutzgesetzgebung. Grundlegende Änderungen erfolgen hier i.d.R. nur langfristig. Bei gegebenen institutionellen Bedingungen wird die Verhandlungsmacht dann zum anderen von der Höhe der Beschäftigung bzw. von der Arbeitslosenquote beeinflusst, die sich auch kurzfristig deutlich ändern kann. Bei einer hohen Beschäftigung, bzw. einer niedrigen Arbeitslosenquote, ist es für die abhängig Beschäftigten tendenziell leichter einen Job zu finden oder den Arbeitsplatz zu wechseln. Die Angst, durch zu hohe Lohnforderungen keine Arbeit zu finden oder sogar eine Stelle zu verlieren, ist deutlich geringer, als in einer Situation hoher Arbeitslosigkeit. Die Unternehmen hingegen sehen sich bei hoher Beschäftigung mit einer hohen Nachfrage nach ihren Produkten konfrontiert, und um diese zu produzieren, müssen sie die Beschäftigung weiterhin auf einem hohen Niveau halten, selbst wenn die abhängig Beschäftigten höhere Löhne fordern. Die abhängig Beschäftigten, bzw. die Institutionen die sie vertreten (Gewerkschaften), werden dementsprechend höhere Nominallohnforderungen gegenüber den Unternehmen durchsetzen können.
Der Nominallohn, \(w_{n}\), ist dementsprechend eine positive Funktion der Beschäftigung, \(L\), institutioneller Faktoren und sozialer Normen, \(\mathbf{b}\) (Gewerkschaftsdichte, Deckungsgrad von Tarifverhandlungen, Koordinierungsgrad von Gewerkschaften und Tarifverhandlungen, Höhe und Dauer von Lohnersatzleistungen, Kündigungsschutzgesetzgebung), sowie des erwarteten Preisniveaus, \(P^e\):
\[\begin{equation} w_{n} = f(L,\mathbf{b}, P^e) \tag{9.1} \end{equation}\]
Während die Lohnverhandlungen über die Nominallöhne geführt werden, ist das eigentliche Ziel der abhängig Beschäftigten und Gewerkschaften ein bestimmter Reallohn. Der Reallohn, \(w_{r}\), misst die Menge an Gütern, die zum aktuellen Preisniveau mit dem Nominallohn gekauft werden können. Der Reallohn ist also der um das Preisniveau korrigierte Nominallohn, d.h. das Verhältnis von Nominallohnsatz, \(w_{n}\), und durchschnittlichem Preisniveau, \(P\):
\[\text{Reallohn} = \frac{\text{Nominallohn €}}{\text{Preisniveau €}}\] bzw.
\[\begin{equation} w_{r}= \frac{w_{n}}{P} \tag{9.2} \end{equation}\]
Wir können nun das reale Lohnziel der abhängig Beschäftigten, \(w^{ws}_{r}\), den Zielreallohnsatz, als das Verhältnis der nominalen Lohnforderungen zum erwarteten Preisniveau ausdrücken:
\[\text{Reallohnziel der abhängig Beschäftigten} = \frac{\text{Nominallohnforderung €}}{\text{erwartetes Preisniveau €}}\] bzw.
\[\begin{equation} w^{ws}_{r} = \frac{w_{n}}{P^e} \tag{9.3} \end{equation}\]
Für unser Modell der Lohnforderungen können wir nun festhalten, dass die abhängig Beschäftigten bzw. die Gewerkschaften durch ihre Nominallohnforderungen einen umso höheren Reallohn, \(w^{ws}_{r}\), zu erzielen versuchen, je höher der Beschäftigungsstand ist. Im Falle eines sehr niedrigen Beschäftigungsstandes nehmen wir aber zusätzlich an, dass es einen minimalen Reallohn gibt, welchen die Gewerkschaften unabhängig vom Beschäftigungsniveau durchsetzen wollen. Dieses Minimum kann zum Beispiel durch Sozialhilfen und Mindestlöhne sowie soziale Normen bestimmt werden.
Den Zusammenhang zwischen dem Reallohnziel der abhängig Beschäftigten oder Gewerkschaften und dem Beschäftigungsniveau, \(L\), können wir nun durch die sogenannte Lohnsetzungskurve, oder die Zielreallohnsatzkurve, beschreiben, die durch die folgende Gleichung gegeben ist:32
\[\begin{equation} w^{ws}_{r} = \mathbf{b} + k L, \quad \text{wobei} \quad \mathbf{b}, k>0 \tag{9.4} \end{equation}\]
In Gleichung (9.4) sind die verschiedenen Faktoren, die das Reallohn-Minimum bestimmen, in der Variablen \(\mathbf{b}\) zusammengefasst, und der Parameter \(k\) bestimmt die Steigung der Lohnsetzungskurve. Die Steigung der Lohnsetzungskurve beschreibt die Fähigkeit von abhängig Beschäftigten und Gewerkschaften, bei Lohnverhandlungen Druck auf die Unternehmen auszuüben, z.B. in Form von Streiks, einer Verringerung der Effizienz am Arbeitsplatz oder der Ablehnung eines Arbeitsangebots. Wir können die Steigung der Kurve auch als Ausdruck der Konfliktorientierung der abhängig Beschäftigten interpretieren. Sowohl die Konstante \(\mathbf{b}\) als auch die Steigung \(k\) der Lohnsetzungskurve hängen daher von den o.g. institutionellen Bedingungen der Lohnverhandlungen ab. Abbildung 9.1 veranschaulicht eine solche Lohnsetzungskurve.
Sie zeigt einen linearen Zusammenhang zwischen dem Reallohnziel und der Beschäftigung. Je höher das Beschäftigungsniveau ist, desto höher werden die Reallohnziele der abhängig Beschäftigten. Bei gegebenen Inflationserwartungen, werden die Nominallohnforderungen also entsprechend mit der Beschäftigung ansteigen.
Abbildungen 9.2 und 9.3 verdeutlichen, dass die Beschäftigung, \(L\), als konjunktureller Faktor der Lohnforderungen angesehen werden kann, während die institutionellen Rahmenbedingungen und sozialen Normen des Arbeitsmarktes und damit der Lohnverhandlungen als strukturelle Faktoren eher langfristig über ihren Effekt auf \(\mathbf{b}\) und \(k\) auf den Zielreallohn der abhängig Beschäftigten wirken.
9.2 Preissetzung und Reallohnziele der Unternehmen
Bisher haben wir nur über die Zielreallohnsätze der abhängig Beschäftigten gesprochen, die dann deren Nominallohnforderungen bestimmen. Diese determinieren den Preis des Produktionsfaktors Arbeit, den die Unternehmen als Kostenfaktor in ihre Produktionspläne und Preisbestimmung einbeziehen müssen. Wir gehen der Einfachheit halber im Folgenden also davon aus, dass die abhängig Beschäftigten ihre Nominallohnforderungen auf dem Arbeitsmarkt auch durchsetzen können, und damit die Nominallohnkosten der Unternehmen bestimmen. Die entscheidende Frage für das Entstehen von Inflation und Deflation ist nun, wie Nominallöhne und Preisniveau zusammenhängen.
In unserer vereinfachten Produktionsfunktion, \(Y=yL\), aus Kapitel 8 werden die variablen Produktionskosten von Unternehmen durch das Produkt aus Arbeitseinsatz und Nominallohn angegeben, bestehen also nur aus den Lohnkosten. Von der Berücksichtigung weiterer variabler Kosten, wie z.B. Kosten für Rohstoffe oder Halbfertigprodukte, sehen wir hier ab. Neben den variablen Lohnkosten fallen also nur noch fixe Kapitalkosten an, d.h. Abschreibungen auf den Kapitalstock und ggf. Zinsen auf Fremdkapital. Wir werden auf deren explizite Behandlung weiter unten zurück kommen. Hier behandeln wir diese Kosten zunächst als Teil der Unternehmensprofite. Für die variablen Produktionskosten gilt nun:
\[\begin{equation} \text{variable Produktionskosten} = \text{Lohnkosten} = \text{Nominallohn} \cdot\text{Beschäftigung} = w_{n}\cdot L \tag{9.5} \end{equation}\]
Die Arbeitskosten pro produziertem Output, die sogenannten Lohnstückkosten, ergeben sich entsprechend aus dem Verhältnis von Lohnkosten und Gesamtproduktion, d.h. Output, \(Y\):
\[\begin{equation} \text{Lohnstückkosten} = \frac{\text{Lohnkosten}}{\text{Output}} = \frac{w_{n} L}{Y} \tag{9.6} \end{equation}\]
Wenn wir nun unsere Produktionsfunktion, \(Y=yL\), in diese Gleichung einsetzen, erhalten wir:
\[\begin{equation} \text{Lohnstückkosten} = \frac{w_{n} L}{yL} = \frac{w_{n}}{y} \tag{9.7} \end{equation}\]
Da entsprechend unserer Produktionsfunktion die Arbeitsproduktivität (bis zur Vollauslastung der durch den Kapitalstock gegebenen Produktionskapazitäten, \(Y^p\)) konstant ist, sehen sich die Unternehmen bei einem konstanten Nominallohnsatz auch konstanten Lohnstückkosten gegenüber, wie in Abbildung 9.4 dargestellt wird. Bei einem höheren Nominallohnsatz würde sich entsprechend die Lohnstückkostenkurve parallel nach oben verschieben.
Für unser einfaches Modell der Preisbildung nehmen wir nun an, dass die Unternehmen ihre Preise auf der Grundlage ihrer durchschnittlichen variablen Produktionskosten, d.h. der Lohnstückkosten, festsetzen.33 Diesen fügen die Unternehmen eine Gewinnspanne, den „Mark-up“ (engl. Aufschlag), für den Gewinn pro Stück hinzu. Diese so genannte Mark-up-Preissetzung, die von Michal Kalecki (1954, Kap. 1; 1987, Kap. 7) in die makroökonomische Theorie eingeführt wurde, kommt vor allem in jenen Gütermärkten vor, in denen die Unternehmen einerseits eine gewisse Preissetzungsmacht haben und andererseits bei freien Produktionskapazitäten auf Nachfragesteigerungen kurzfristig mit Produktions- und Angebotserhöhungen reagieren können. Auf diesen oligopolistischen oder monopolistischen Märkten ist der Preiswettbewerb begrenzt und die Unternehmen agieren als Mengenanpasser bei Nachfrageänderungen, wie wir bisher in diesem Buch durchgehend unterstellt haben. Solche Märkte sind ein typisches Merkmal entwickelter kapitalistischer Wirtschaftssysteme, in denen, insbesondere im industriellen Sektor, in der Regel nur eine begrenzte Anzahl von Unternehmen miteinander konkurrieren. Nehmen wir zum Beispiel die Märkte für Smartphones oder Computerchips, wo nur wenige globale Akteure auf eine große Anzahl von Kunden*innen treffen. Aber auch im Dienstleistungssektor, beispielsweise im Bereich der Suchmaschinen und des E-Commerce, gibt es oft nur wenige Unternehmen, die den Markt weitgehend dominieren.
Determinanten des Mark-ups
Die Höhe des Mark-ups wird von verschiedenen strukturellen Faktoren der Produktionszweige im industriellen und Dienstleistungssektor der Ökonomie bestimmt (vgl. Hein 2018, Kap. 8.2; Kalecki 1954, Kap. 1; 1987, Kap. 7). Der Mark-up hängt positiv vom Konzentrationsgrad in den jeweiligen Produktionszweigen, negativ von der Bedeutung der Preiskonkurrenz relativ zu anderen Wettbewerbsformen (Marketing, Produktdifferenzierung), und negativ von der strukturellen Stärke der Gewerkschaften ab, die u.a. von den o.g. Strukturfaktoren des Arbeitsmarktes und der sozialen Sicherungssysteme bestimmt wird. Hinzu kommt, dass der Mark-up auch andere Kosten als die Lohnstückkosten decken muss, wie z.B. die Zinskosten und andere Kapital- bzw. Overheadkosten. Ändern sich diese Kosten für alle oder den überwiegenden Teil der Unternehmen in einem Produktionszweig, so ist mit einer gleichgerichteten Veränderung des Mark-ups zu rechnen. All diese Bestimmungsfaktoren des Mark-ups haben aber eher einen langfristigen Einfluss, so dass wir im folgenden erst einmal davon absehen und von einem kurzfristig konstanten Mark-up ausgehen.
Wenn wir also davon ausgehen, dass unvollständiger Wettbewerb und unterausgelastete durch den Kapitalstock gegebene Produktionskapazitäten in unserer kapitalistischen Modellwirtschaft der Normalfall sind, dann führt die Mark-up-Preissetzung der Unternehmen zu der folgenden Preisgleichung:
\[\begin{equation} P= (1+m) \frac{w_{n}}{y} \tag{9.8} \end{equation}\]
Der Mark-up bestimmt damit den Bruttoprofit pro Outputeinheit, der dann zur Deckung fixer Kapitalkosten und für die verschiedenen Profite (Zinsen, Dividenden, Mieten, Pachten, einbehaltene Gewinne) zur Verfügung steht.
Aus unserer Preisgleichung können wir nun auch ein Reallohnziel für die Unternehmen ableiten. Der Preissetzungs-Reallohn, \(w^{ps}_{r}\), bzw. der Zielreallohnsatz der Unternehmen, ist der Reallohn, der mit den Gewinnzielen der Unternehmen übereinstimmt. Um ihn abzuleiten, lösen wir die Gleichung (9.8) nach dem Reallohnsatz, \(w_r = w_n / P\), auf, und es ergibt sich somit die Preissetzungskurve, die den Zielreallohnsatz der Unternehmen darstellt.
\[\begin{equation} w^{ps}_{r} = \frac{w_n}{P} = \frac{y}{(1+m)} \tag{9.9} \end{equation}\]
Der Zielreallohnsatz der Unternehmen hängt also positiv von der Arbeitsproduktivität und negativ vom Mark-up ab (Abbildungen 9.5 und 9.6). Je höher die Arbeitsproduktivität, desto höher ist der Reallohnsatz, der mit den Profitzielen der Unternehmen kompatibel ist. Je höher der Mark-up, desto geringer ist der mit den Profitzielen einhergehende Reallohnsatz.
Bei kurzfristig gegebener Arbeitsproduktivität und gegebenem Mark-up, ändert sich der Zielreallohnsatz der Unternehmen bei Output- und Beschäftigungsänderungen nicht. Die Preissetzungskurve in Abbildung 9.7 wird deshalb zu einer Horizontalen.
9.3 Lohnsetzung, Preissetzung und Verteilungsgleichgewicht
Wir können nun die Lohnsetzungskurve (\(WS\)-Kurve), welche die Reallohnziele der abhängig Beschäftigten darstellt, und die Preissetzungskurve (\(PS\)-Kurve), welche die Reallohnziele der Unternehme darstellt, verwenden, um in Abbildung 9.8 das Verteilungsgleichgewicht in unserer Modellwirtschaft darzustellen, in dem die Zielreallöhne von abhängig Beschäftigten und Unternehmen übereinstimmen.
Der Schnittpunkt der Preis- und Lohnsetzungskurve bestimmt das Beschäftigungsniveau, bei dem die Reallohnziele der abhängig Beschäftigten mit den Stück-Gewinnzielen und damit den Reallohnzielen der Unternehmen übereinstimmen. Dieser Punkt wird hin und wieder irreführenderweise als Arbeitsmarktgleichgewicht interpretiert. Statt einem Gleichgewicht auf dem Arbeitsmarkt handelt es sich hier um eine Verteilungsgleichgewicht, welches durch die Lohnsetzung auf dem Arbeitsmarkt im Zusammenhang mit der Preissetzung auf dem Gütermarkt hergeleitet wird. Es sind hier also zwei Märkte im Spiel, nicht nur der Arbeitsmarkt. Abhängig Beschäftigte und Gewerkschaften setzen den Nominallohnsatz auf dem Arbeitsmarkt, um ihr Reallohnziel zu erreichen. Unternehmen setzen den Güterpreis auf dem Gütermarkt, um ihr Profitziel und damit implizit ihr Reallohnziel zu erreichen. Nur wenn beide Akteure ihre Ziele erreichen, haben wir ein Verteilungsgleichgewicht. Wir werden weiter unten sehen, dass nur dieses Gleichgewicht dann mit konstanter Inflation einhergeht. Abweichungen vom Gleichgewicht nach oben oder nach unten ziehen dann steigende oder fallende Inflationsraten nach sich. Wir werden zudem sehen, dass Veränderungen der vom Verteilungsgleichgewicht bestimmten Beschäftigung noch nicht bedeutet, dass sich die tatsächliche Beschäftigung auf dem Arbeitsmarkt verändert. Deshalb sollte die durch Lohnsetzungs- und Preissetzungskurve bestimmte Gleichgewichtsbeschäftigung auf keinen Fall als Arbeitsmarktgleichgewicht bezeichnet werden.
Wie Abbildung 9.8 zeigt, geht dieses Gleichgewicht in der Regel mit un-freiwilliger Arbeitslosigkeit einher und die Gleichgewichtsbeschäftigung liegt unter dem bei gegebener Erwerbspersonenzahl maximal möglichen Vollbeschäftigungsniveau. Das Gleichgewicht ist also kein Gleichgewicht im Sinne einer Markträumung, sondern bezieht sich nur auf die Übereinstimmung der Reallohnziele von Arbeitern*innen und Unternehmen. Befindet sich die Modellökonomie in dieser Situation, werden also sowohl die Erwartungen der Unternehmen hinsichtlich ihrer Gewinnmargen als auch die Erwartungen der Arbeitern*innen hinsichtlich ihrer Reallöhne erfüllt. Für beide Gruppen folgt daraus, dass sie ihr Verhalten nicht weiter ändern müssen, solange die Beschäftigung nicht von diesem Gleichgewicht abweicht.
Wir können das Verteilungsgleichgewicht auch wieder formal herleiten. Dazu müssen wir lediglich die Gleichungen für die Lohn- und Preissetzungskurven gleichsetzen (9.10) und nach der mit dem Verteilungsgleichgewicht korrespondierenden Beschäftigung, \(L^N\), auflösen (9.11):
\[\begin{equation} \mathbf{b} + kL^N = \frac{y}{(1+m)} \tag{9.10} \end{equation}\]
\[\begin{equation} L^N = \frac{1}{k}\left[\frac{y}{(1+m)} - \mathbf{b}\right] \tag{9.11} \end{equation}\]
Es gibt also nur ein Beschäftigungsniveau, und bei gegebenem Arbeitsangebot damit nur eine Arbeitslosenquote, bei dem die Reallohnziele, und damit die Verteilungsziele, von abhängig Beschäftigten und Gewerkschaften auf der einen Seite und Unternehmen auf der anderen Seite miteinander übereinstimmen und daher kompatibel miteinander sind. Dieses Beschäftigungsniveau, und die dazugehörige Arbeitslosenquote, können wir daher als Ausdruck eines Verteilungsgleichgewichts interpretieren.
Wie wir allerdings sehen werden, ist dieses Gleichgewicht nicht notwendigerweise stabil, in dem Sinne, dass es bei Abweichungen keine automatische Rückkehr zum Verteilungsgleichgewicht gibt. Um diesen Prozess zu verstehen, müssen wir zunächst den Mechanismus untersuchen, der im soeben beschriebenen Lohnverhandlungs- und Preissetzungsmodell eine Veränderung des Preisniveaus hervorrufen kann.
Ein wichtiger Unterschied: \(L^*\) vs. \(L^N\)
Wir müssen eindeutig zwischen dem tatsächlich realisierten Beschäftigungsniveau \(L^*\), welches durch das Gleichgewicht des Gütermarktes bedingt ist, und dem Beschäftigungsniveau \(L^N\), welches durch das Verteilungsgleichgewicht bestimmt wird, unterscheiden. \(L^*\) wird durch die tatsächliche Nachfrage auf dem Gütermarkt bestimmt und ändert sich immer dann, wenn sich die Determinanten der Gesamtnachfrage ändern. \(L^N\) wird hier nicht durch die effektive Nachfrage, sondern zunächst nur durch die Verteilungsansprüche von Firmen und abhängig Beschäftigten bestimmt. In der Regel wird \(L^*\) von \(L^N\) abweichen, und wir werden im Folgenden die Konsequenzen einer solchen Abweichung analysieren.
9.4 Die Inflationsrate als Ausdruck eines Verteilungskonflikts: die inflationsstabile Beschäftigung und die NAIRU
Wir haben oben bereits gesagt, dass das Ziel der Preissetzung darin besteht, die Zielgewinnmarge der Unternehmen, d.h. den Zielgewinn pro Stück zu sichern. Dieses Ziel kann von den Unternehmen jedoch nur erreicht werden, wenn der Reallohn nicht über das Niveau der Preissetzungskurve steigt, die ja den impliziten Zielreallohnsatz der Unternehmen angibt. Der Verteilungskonflikt zwischen Löhnen und Gewinnen und damit zwischen Arbeit und Kapital kann durch die Preissetzungskurve veranschaulicht werden. Abbildung 9.9 zeigt das Reallohnziel der Unternehmen (die \(PS\)-Kurve) im Vergleich zur Produktion pro eingesetzter Arbeitskraft, d.h. zur Arbeitsproduktivität.
Die obere horizontale Linie in der Abbildung zeigt die Arbeitsproduktivität, d.h. den Output pro Arbeitseinsatz. Das hierdurch ermöglichte Einkommen wird nun zwischen Gewinnen und Löhnen aufgeteilt. Der Teil der Produktion, der zwischen der Reallohnkurve und der Arbeitsproduktivität liegt, geht als Gewinn an die Unternehmen. Insgesamt erhalten die Unternehmen die reale Profitsumme: \(\Pi_r = yL - w_rL\). Alles unterhalb der Reallohnkurve geht in Form von Löhnen an die Beschäftigten, welche insgesamt die Reallohnsumme \(W_r = w_rL\) erhalten. Die Gesamtfläche unterhalb der Linie der Arbeitsproduktivität bis zur horizontalen Achse stellt die gesamte Wirtschaftsproduktion bei Vollbeschäftigung dar (Reale Produktion: \(Y = yL\)). Wenn die Beschäftigung und die Gesamtproduktion auf ein niedrigeres Niveau fallen, dann sinken die Summe der Gewinne, \(\Pi_r\), und die Summe der Löhne, \(W_r\), aber ihr Verhältnis zur Gesamtproduktion, \(\Pi_r/Y\) bzw. \(W_r/Y\), bleibt konstant - zumindest solange sich die Preissetzungskurve in der Abbildung nicht verschiebt. Wir können dieses Verhältnis als die funktionale Verteilung des Einkommens zwischen Kapital und Arbeit interpretieren (vgl. Hein 2018, Kap. 1).
Fügen wir nun die Lohnsetzungskurve zur Abbildung hinzu, wird deutlich, dass die gleichgewichtige Beschäftigung mit einer bestimmten Einkommensverteilung einhergeht, oder besser, die gleichgewichtige Beschäftigung wird durch ein Verteilungsgleichgewicht bestimmt, in dem die Verteilungsziele von Unternehmen und abhängig Beschäftigten miteinander übereinstimmen. Dabei haben wir hier unterstellt, dass die Unternehmen aufgrund ihrer Preissetzungsmacht immer in der Lage sind, ihren Zielreallohn durchzusetzen.
In der folgenden interaktiven Anwendung können die Parameter der Abbildung 9.10 verändert werden:
Die Abbildung 9.10 und ihre interaktive Version veranschaulichen sehr schön, dass dem Lohn- und Preissetzungsverhalten der Verhandlungsparteien unserer Ökonomie ein Verteilungskonflikt zugrunde liegt. Aber wie hängt dieser Konflikt mit der Inflationsrate zusammen? Wir können dies verstehen, wenn wir uns klar machen, was in dem Modell passiert, wenn das Beschäftigungsniveau über den Gleichgewichtswert \(L^N\) steigt und die abhängig Beschäftigten einen höheren Reallohn durchzusetzen versuchen. Eine solche Situation kann zum Beispiel durch einen positiven Nachfrageschock verursacht werden. In diesem Fall befinden wir uns also rechts vom Gleichgewichtspunkt \(L^N\). Der Lohn- und Preisfestsetzungsprozess läuft in diesem Fall folgendermaßen ab:
- Die Beschäftigung liegt, z.B. in Folge des Nachfrageschocks, auf ein Niveau über dem Gleichgewicht.
- Die abhängig Beschäftigten und Gewerkschaften fordern stärker steigende Nominallöhne, um einen höheren Reallohn zu realisieren, wobei sie zunächst davon ausgehen, dass das Preisniveau mit der bisherigen Inflationsrate wächst.
- Die Unternehmen gestehen die Nominallohnsteigerung zu.
- Aber sofort nachdem der Nominallohnanstieg verhandelt wurde, realisieren die Unternehmen, einen drohenden Fall ihrer Profitmarge.
- Um ihre Profitmarge zu verteidigen, erhöhen die Unternehmen die Preise und damit die Inflationsrate genau so weit, dass der ursprüngliche Reallohn wiederhergestellt ist.
- Damit beobachten wir einen Anstieg der Inflationsrate. Dieser resultiert aus einem Konflikt zwischen Ziel-Reallöhnen und -Profiten, bzw. zwischen abhängig Beschäftigten und Unternehmen, den die Unternehmen temporär über einen Anstieg der Inflationsrate für sich entscheiden können.
- Die abhängig Beschäftigten haben aber ihr Ziel nicht erreicht und werden daher in der nächsten Periode den Anstieg der Nominallöhne forcieren, wodurch dann auch die Inflationsrate weiter ansteigt.
Die Bewegung der Inflationsrate in Abhängigkeit von der Beschäftigung, die durch das soeben beschriebene Verhalten ausgelöst wird, kann mit dem Konzept der Phillipskurve beschrieben werden, die den Zusammenhang von Beschäftigung (oder Arbeitslosigkeit) und Inflationsrate beschreibt.
Liegt die Beschäftigung oberhalb von \(L^N\), gilt also \(L > L^N\), werden die abhängig Beschäftigten versuchen, den Reallohn in Übereinstimmung mit der \(WS\)-Kurve (Gleichung (9.4)) auf ihren Zielreallohnsatz zu erhöhen. Die von den abhängig Beschäftigten intendierte Veränderung des Reallohns ergibt sich also als die Differenz aus dem von der realisierten Beschäftigung abhängigen Zielreallohn, \(w^{ws}_{r}(L)\), und dem tatsächlichen realisierten Reallohn der letzten Periode, \(w_{r,-1}\), also als:
\[w^{ws}_{r}(L) - w_{r,-1}\]
Da die Unternehmen über die Preissetzung aber letzten Endes immer auch den Reallohn auf ihren Ziellohn zurücksetzen können, ist der realisierte Reallohn der letzten Periode genau der Zielreallohn der Unternehmen, \(w^{ps}_{r} = w_{r,-1}\). Dabei nehmen wir wie oben erläutert an, dass der Zielreallohn der Unternehmen konstant ist. Wir brauchen für ihn also keinen Zeitindex, der auf die vorherige Periode verweist (also keine \(_{-1}\)). Der Zielreallohn der Unternehmen stimmt mit dem Zielreallohnsatz der abhängig Beschäftigten nur im Schnittpunkt von \(PS\)- und \(WS\)-Kurve überein, also nur wenn das Beschäftigungsniveau bei \(L^N\) liegt. Es gilt dann:
\[L = L^N\]
\[w^{ps}_{r} = w^{ws}_r = \mathbf{b} + kL^N\]
Für die von den abhängig Beschäftigten intendierte Veränderung des Reallohns bei \(L > L^N\), \(w^{ws}_{r}(L) - w_{r,-1}\), können wir also folgendes Schreiben:
\[\begin{equation} w^{ws}_{r}(L) - w_{r,-1} = w^{ws}_{r}(L) - w^{ps}_{r} = w^{ws}_{r}(L) - (\mathbf{b} + kL^N) \tag{9.12} \end{equation}\]
Für \(w^{ws}_{r}(L)\) können wir auch einfach die Gleichung (9.4) der \(WS\)-Kurve in Gleichung (9.12) einsetzen:
\[w^{ws}_{r}(L) - w_{r,-1} = \mathbf{b} + kL - (\mathbf{b} + kL^N)\]
bzw.
\[w^{ws}_{r}(L) - w_{r,-1} = kL - kL^N\] Durch Ausklammern des Parameters der Konfliktorientierung der abhängig Beschäftigten bzw. Gewerkschaften, \(k\), ergibt sich schließlich:
\[\begin{equation} w^{ws}_{r}(L) - w_{r,-1} = k(L - L^N) \tag{9.13} \end{equation}\]
Die von den abhängig Beschäftigten intendierte Veränderung des Reallohns ist also von der Konfliktorientierung und vom Abstand zwischen dem durch das Gütermarktgleichgewicht bestimmten Beschäftigungsniveau und dem durch das Verteilungsgleichgewicht bestimmten, \(L - L^N\), abhängig.
Da die Lohnverhandlungen aber über den Nominallohn, \(w_{n}\), geführt werden, müssen die abhängig Beschäftigten einen bestimmten Nominallohn in den Verhandlungen durchsetzen, um ihr Reallohnziel zu erreichen. Dabei müssen die abhängig Beschäftigten natürlich auch ihre Erwartungen bezüglich der Inflationsrate, \(\pi=\Delta P/P_{-1}\), beachten, da die Inflationsrate schließlich das Verhältnis zwischen Nominallohn und Preis, also den Reallohn, \(w_{r}= w_{n}/P\), verändert. Für die Veränderung des Reallohns kommt es also sowohl auf die Veränderung des Nominallohns, als auch auf die Inflationsrate an. Die Veränderung des Reallohns, \(w_{r} - w_{r,-1} = \frac{\Delta w_{r}}{w_{r, -1}}\), ergibt sich annäherungsweise als die Differenz aus der Lohninflationsrate, \(\Delta w_{n}/w_{n, -1}\), und der Preisinflationsrate, \(\pi= \Delta P/P_{-1}\):
\[\begin{equation} w_{r} - w_{r,-1} \approx \frac{\Delta w_{n}}{w_{n, -1}} - \pi \tag{9.14} \end{equation}\]
Für die von den abhängig Beschäftigten intendierte Reallohnveränderung gilt unter Beachtung der Inflationserwartungen also:
\[\begin{equation} w^{ws}_{r}(L) - w^{ps}_{r} = w^{ws}_r - w_{r,-1} = k(L-L^N) \approx \frac{\Delta w_{n}}{w_{n, -1}} - \pi^e \tag{9.15} \end{equation}\]
wobei \(\Delta w_{n}/w_{n, -1}\) somit die von den abhängig Beschäftigten durchzusetzende Veränderungsrate des Nominallohns ist. Stellen wir die Gleichung nun noch nach dieser Veränderungsrate um, so erhalten wir die Gleichung für die Nominallohninflation:34
\[\begin{equation} \frac{\Delta w_{n}}{w_{n, -1}} \approx \pi^e + k(L - L^N) \tag{9.16} \end{equation}\]
Wir gehen hier davon aus, dass die Inflationserwartungen der abhängig Beschäftigten auf Grundlage vergangener Werte der Inflationsrate gebildet werden. Solch eine Erwartungsbildung wird mit dem Begriff der adaptiven Erwartungen bezeichnet. Der Einfachheit halber unterstellen wir hier sogar, dass die abhängig Beschäftigten damit rechnen, dass die Preise sich in der aktuellen Periode mit der gleichen Rate wie in der letzten Periode verändern werden. Für die erwartete Inflationsrate, \(\pi^e\), gilt also:
\[\begin{equation} \pi^e = \pi_{-1} \tag{9.17} \end{equation}\]
Wir können also die Inflationsrate der letzten Periode in die Gleichung für die Wachstumsrate der Nominallöhne einsetzen und erhalten:
\[\begin{equation} \frac{\Delta w_{n}}{w_{n}} \approx \pi_{-1} + k(L - L^N) \tag{9.18} \end{equation}\]
Die abhängig Beschäftigten bzw. die sie vertretenden Gewerkschaften setzen eine Wachstumsrate des Nominallohns durch, die von der Inflationsrate der Vorperiode und dem Beschäftigungsstands, und damit der Arbeitslosenquote, zum Zeitpunkt der Lohnverhandlungen abhängt.
Wie werden die Unternehmen nun auf diese Lohnsteigerungsrate reagieren? Die Antwort auf diese Frage können wir wiederum aus unserer Preisgleichung (Gleichung (9.8)) herleiten:
\[P = (1+m) \frac{w_{n}}{y}\]
Wenn wir die Preisgleichung in Veränderungsraten umschreiben, sehen wir, dass die Veränderungsrate des Preisniveaus, die Inflationsrate, durch die Veränderungsraten des Mark-ups, des Nominallohns und der Arbeitsproduktivität bestimmt wird. Formal können wir dies so schreiben:
\[\begin{equation} \pi = \frac{\Delta (1+m)}{(1+m)} + \frac{\Delta w_{n}}{w_{n}} - \frac{\Delta y}{y} \tag{9.19} \end{equation}\]
Nehmen wir zunächst einmal an, dass Mark-up und die Arbeitsproduktivität konstant bleiben \(\left(\Delta (1+m) / (1+m) = 0, \quad \Delta y / y = 0\right)\), so stimmt die Preissteigerungsrate also genau mit der Wachstumsrate der Nominallöhne überein.
\[\begin{equation} \pi = \frac{\Delta w_{n}}{w_{n,-1}} \tag{9.20} \end{equation}\]
Wenn die Unternehmen die Preise also direkt nach der Verhandlung der Nominallöhne proportional anpassen, garantiert dieses Preissetzungsverhalten die Konstanz der Mark-ups und damit auch, dass die Unternehmen immer ihr Reallohnziel durchsetzen können. Die Unternehmen können sich also über einen inflationären Schub gegen die intendierten Reallohnsteigerungen der abhängig Beschäftigten wehren. Die Inflationsrate kompensiert dabei genau die Nominallohnsteigerungen. Im Folgenden gehen wir von diesen stark vereinfachenden Annahmen aus, die jede Wirkung von Nominallohnsteigerungen auf die Reallöhne und die Einkommensverteilung ausschließt.
Wenn wir Gleichung (9.16) für die Nominallohninflation in die obige Gleichung einsetzen erhalten wir unsere Phillipskurve, die hier den Zusammenhang zwischen Inflationsrate, \(\pi\), und Beschäftigung, \(L\), darstellt:
\[\begin{equation} \pi = \pi_{-1} + k(L - L^N) \tag{9.21} \end{equation}\]
bzw.
\[\begin{equation} \pi = \pi^e + k(L - L^N) \tag{9.22} \end{equation}\]
Abbildung 9.11 stellt diese kurzfristige Phillipskurve grafisch dar.
Wir können diese Phillipskurve natürlich auch mit dem \(WS-PS\)-Diagramm verbinden, aus der sie schließlich hergeleitet wurde. In Abbildung 9.12 links haben wir auch das Verteilungsgleichgewicht im oberen Teil abgetragen. Wie wir sehen, ist dieses Gleichgewicht durch eine vertikale Linie dargestellt. Ihr Schnittpunkt mit der Phillipskurve zeigt, dass die Inflationsrate dort genau bei der Rate der Vorperiode, hier bei konstanten 2%, bleibt.
Im Schnittpunkt von \(WS\)- und \(PS\)-Kurve erreichen sowohl die Unternehmen als auch die abhängig Beschäftigten ihr Reallohnziel, d.h. ihr implizites Verteilungsziel. Da die abhängig Beschäftigten und die Gewerkschaften hier mit dem erreichten Reallohn zufrieden sind, werden sie die Nominallöhne entsprechend der Inflationsrate der Vergangenheit, die sie ja auch für die laufende Periode erwarten, erhöhen. Und die Unternehmen werden nun die Preise mit derselben Rate erhöhen. Die Inflationsrate ändert sich hier also nicht, und bleibt auf dem Niveau der vergangenen Periode konstant. Das Beschäftigungsniveau im Schnittpunkt der \(WS\)- und \(PS\)-Kurven kann daher als inflationsstabile Beschäftigung bezeichnet werden, und die dazugehörige Arbeitslosenquote als inflationsstabile Arbeitslosenquote, oder als \(\text{NAIRU}\) (non-accelerating-inflation-rate-of-unemployment). Die inflationsstabile Beschäftigung wird von uns daher als \(L^N\) bezeichnet. \(\text{NAIRU}\) und \(L^N\) hängen wie folgt zusammen:
\[\begin{equation} \text{NAIRU} = \frac{N - L^N}{N} \tag{9.23} \end{equation}\]
Sobald \(L^*\) jedoch über \(L^N\) liegt, beginnt die Inflationsrate bei sonst gleich bleibenden Bedingungen zu steigen. Wenn \(L^*\) stattdessen unter \(L^N\) liegt, wird die Inflationsrate fallen. Am Ende jeder Runde wird der Anstieg (bzw. Fall) der realisierten Inflation zu einer gleichgerichteten Änderung der Inflationserwartungen führen. Damit verschiebt sich also die Konstante der kurzfristigen Phillipskurve von Runde zu Runde weiter nach oben (bzw. unten) (Parallelverschiebung der Phillipskurve). Die Inflationsrate beschleunigt (bzw. verlangsamt) sich außerhalb von \(L^N\) also mehr und mehr. Beide Fälle sind in Abbildung 9.12 rechts zu sehen.
Neben der mit der Beschäftigung steigenden kurzfristigen Phillipskuve haben wir im unteren Teil der Abbildung 9.12 bei \(L^N\) auch eine vertikale langfristige Phillipskurve eingetragen. Auf dieser vertikalen Phillipskurve bleibt die Inflationsrate konstant. Der Zusammenhang zwischen kurzfristiger und langfristiger Phillipskurve wird im Kapitel 10 im Rahmen des neu-keynesianischen Gesamtmodells bzw. im Rahmen des Neuen Konsensmodells erläutert, denn es müsste ja nun erklärt werden, wie die Ökonomie zum Verteilungsgleichgewicht bei \(L^N\) - und damit zu stabilen Inflationsraten - zurückgeführt wird, wenn die Beschäftigung von \(L^N\) abweicht.
9.5 Determinanten der NAIRU und Möglichkeiten ihrer Veränderung
Wie wir oben gesehen haben, entsprechen die Reallohnansprüche der Beschäftigten nur bei der NAIRU dem Reallohn, der sich aus der Preissetzung der Unternehmen ergibt. Wie wir im nächsten Kapitel sehen werden, ist die NAIRU aus neu-keynesianischer Sicht bzw. aus Sicht des Neuen Konsens in der Makroökonomik der langfristige Anziehungspunkt unser Modellökonomie. Übersteigt die Beschäftigung das durch die NAIRU vorgegebene Niveau, werden beschleunigte Nominallohnerhöhungen, die durch eine verbesserte Verhandlungsposition der abhängig Beschäftigten ausgelöst werden, in die Preise weitergegeben, was zu Lohn-Preis-Spiralen führt. Fällt die Beschäftigung dagegen unter das NAIRU-Niveau, sinken die Nominallohnerhöhungen, und die Inflation beginnt ebenfalls zu sinken. Nur auf dem Beschäftigungsniveau, das mit der NAIRU übereinstimmt, wird die Inflation konstant gehalten. Hier ist das System im (Verteilungs-)Gleichgewicht, und in diesem Zustand ist kein wirtschaftspolitischer Eingriff erforderlich.
Die NAIRU hängt dabei ausschließlich von institutionellen und strukturellen Merkmalen der Modellökonomie ab, wie z.B. den Bedingungen des Arbeitsmarktes, dem Lohnverhandlungssystem, den sozialen Sicherungssystemen und den Konkurrenzbedingungen auf dem Gütermarkt, die den Preisaufschlag der Unternehmen bestimmen. Im Grundmodell kann die NAIRU nur durch eine angebotsseitige Politik geändert werden, die diese institutionellen und strukturellen Merkmale beeinflusst, aber sie bleibt von Veränderungen der aggregierten Nachfrage unberührt.
Angebotsseitige Determinanten der NAIRU
Wie wir anhand von Gleichung (9.11) und (9.23) erkennen können, hängen die inflationsstabile Beschäftigung sowie die NAIRU nur von angebotsseitigen Faktoren ab. Demnach ist die NAIRU durch die Konfliktorientierung der abhängig Beschäftigten, \(k\), durch den Mark-up der Unternehmen auf dem Gütermarkt, \(m\), sowie durch die Arbeitsproduktivität, \(y\), und die institutlionenllen Faktoren und Normen des Arbeitsmarktes (Soziallleistunge, Mindestlöhne, etc.), \(\mathbf{b}\), bestimmt:
\[L^N = \frac{1}{k}\left[\frac{y}{(1+m)} - \mathbf{b}\right]\] \[\text{NAIRU} = \frac{N - L^N}{N}\] In der interaktiven Abbildung 9.10 können die verschiedenen Determianten des Verteilungsgleichgewichts und der inflationsstabilen Beschäftigung verändert werden.
Zu den strukturelle Faktoren des Arbeitsmarktes und der Sozialversicherungssysteme, welche NAIRU und inflationsstabile Beschäftigung bestimmen, gehören u.a.:
- der gewerkschaftliche Organisationsgrad und der Deckungsgrad der Lohnverhandlungen
- der Zentralisierungs-/Koordinierungsgrad der Lohnverhandlungen
- die Arbeitsschutzgesetzgebung
- das Arbeitslosengeld und die Lohnersatzquote
- die Dauer der Zahlung von Arbeitslosengeld
- Sozialversicherungsbeiträge
Die hier genannten Faktoren können in unserem einfachen Modell als positive Einflusskanäle von \(k\) und \(\mathbf{b}\) interpretiert werden. Je besser diese Faktoren für die abhängig Beschäftigten ausfallen, desto höher wären im Modell die Werte für die Variablen der Konfliktorientierung \(k\) und der institutionellen Faktoren und Normen des Arbeitsmarktes \(\mathbf{b}\). Politikgetriebene Änderungen dieser Faktoren werden oft als Strukturreformen bezeichnet.
Auch eine Veränderung des Mark-ups, \(m\), der Unternehmen auf dem Gütermarkt kann eine Veränderung von \(L^N\) und der NAIRU hervorrufen. Ein geringere Mark-up würde die inflationsstabilie Beschäftigung erhöhen und die NAIRU senken. Auslöser hierfür könnte zum Beispiel eine Erhöhung des Wettbewerbs auf dem Gütermarkt sein, z.B. durch eine Öffnung der Märkte für zusätzliche Konkurrenten.
Die für die Determinanten des Verteilungsgleichgewichts und der inflationsstabilen Beschäftigung, bzw. der NAIRU, wesentlichen Politikbereiche sind also die Arbeitsmarkt-, die Lohn-/Einkommens- und die Wettbewerbspolitik. Ein Abbau von z.B. Sozialleistungen, d.h. eine allgemein geringere Verhandlungsstärke der abhängig Beschäftigten und ihrer Gewerkschaften sowie ein höherer preislicher Wettbewerb zwischen den Unternehmen auf dem Gütermarkt senken daher jeweils die neu-keynesianische NAIRU. Ob eine so ermöglichte geringere NAIRU und eine höhere inflationsstabile Beschäftigung dann tatsächlich erreicht wird, hängt dann jedoch von der Entwicklung der aggregierten Nachfrage ab, welche die tatsächliche Beschäftigung \(L^*\) bestimmt.
Auch eine Veränderung der Arbeitsproduktivität, \(y\), könnte zu einer Veränderung der NAIRU führen, wie aus obigen Gleichungen ersichtlich wird. Bei Konstanz der anderen Faktoren hätte eine höhere Arbeitsproduktivität einen positiven Effekt auf die inflationsstabile Beschäftigung und damit einen senkenden Effekt auf die NAIRU (siehe Abbildung 9.10). Dies würde jedoch voraussetzen, dass die Veränderung der Arbeitsproduktivität korrekt von den Unternehmen vorhergesehen wird, so dass sie ihren Zielreallohn entsprechend anpassen und damit die funktionale Einkommensverteilung zwischen abhängig Beschäftigten und Unternehmen konstant halten. Dies würde einen höheren Reallohn bei konstanten Profitmargen der Unternehmen ermöglichen. Das Beschäftigungsniveau bei dem Reallohnziel der Unternehmen und der abhängig Beschäftigten übereinstimmen wäre also höher. Aus verschiedenen Gründen könnte ein Produktivitätsfortschritt jedoch auch dazu führen, dass die Unternehmen sich einen größeren Teil des aggregierten Einkommens aneignen wollen. Ist der technologische Fortschritt zum Beispiel über die Unternehmen hinweg ungleich verteilt, könnten marginale Unternehmen aus dem Markt ausscheiden, wodurch sich eine Verminderung der preislichen Konkurrenz auf dem Gütermarkt und somit eine Erhöhung des Mark-ups ergeben könnte. Bei der Betrachtung von langfristigen Veränderungen der Produktivität sollten wir jedoch beachten, dass die abhängig Beschäftigten in der Regel auch einen Anteil der Produktivtätsteigerung in Form von zusätzlichem Einkommen verlangen werden - es sei denn es herrscht eine Produktivitätsillusion, was zumindest langfristig nicht realistisch ist. Das bedeutet, dass sich sowohl auf Seite der Beschäftigten, als auch auf Seite der Unternehmen das Problem der korrekt zu antizipierenden Produktivitätsentwicklung ergibt. Die Erwartungsbildung hinsichtlich der Produktivität müsste zum Beispiel in einem Wachstumsmodell mit technologischem Fortschritt im Detail berücksichtigt werden. Da wir uns hier jedoch auf die kurze Frist konzentrieren, werden wir im Folgenden weiterhin annehmen, dass die Produktionstechnologie und damit die Arbeitsproduktivität konstant ist.
Wenn die Politik nun also das mit der NAIRU einhergehende Verteilungsgleichgewicht beeinflussen will, so muss sie dies über angebotsseitige Politikmaßnahmen tun. Allerdings würden angebotsseitige Maßnahmen auf dem Arbeits- und/oder Gütermarkt erst einmal nur die inflationsstabile Beschäftigung erhöhen bzw. die NAIRU reduzieren, ohne dass damit automatisch auch die tatsächliche Beschäftigung steigt und die tatsächliche Arbeitslosenquote fällt. Denn letztere werden durch die effektive Nachfrage auf dem Gütermarkt bestimmt. Empirischen Studien gelingt es daher in der Regel nicht, die langfristige Entwicklung der Arbeitslosigkeit oder dauerhafte Unterschiede der Arbeitslosenquoten verschiedener Länder eindeutig und ausschließlich auf die Strukturfaktoren zurückzuführen, die in der Theorie die NAIRU bestimmen sollen.35
Die neu-keynesianische Sichtweise eines langfristigen Gleichgewichts einer NAIRU, die durch strukturelle Merkmale des Arbeitsmarktes, der Lohnverhandlungsinstitutionen und der Sozialleistungssysteme bestimmt wird, wird jedoch in der post-keynesianischen Sichtweise in Frage gestellt. In einem postkeynesianischen Modell kann die NAIRU nur als eine kurzfristige Beschäftigungsbarriere interpretiert werden, die sich aus der durch den Verteilungskonflikt angeheizten Inflationsdynamik ergibt. Langfristig folgt die Entwicklung der NAIRU in einem post-keynesianischen Modellrahmen jedoch der tatsächlichen Arbeitslosigkeit und damit der effektiven Nachfrage. Dabei können verschiedene Anpassungskanäle auftreten, wie wir in Kapitel 12 sehen werden.
Weiterführende Literatur zu Kapitel 9
Lehrbücher:
- Carlin und Soskice (2015, Kap. 2)
- Hein (2018, Kap. 8.2)
- Hein (2023, Kap. 6)
Andere Literatur:
- Kalecki (1954, Kap. 1)
- Kalecki (1987, Kap. 7)
References
\(^{ws}\) steht hierbei für “wage setting”.↩︎
Eigentlich sollten wir von einem Aufschlag auf die Grenzkosten sprechen. In unserer vereinfachten Produktionsfunktion sind die variablen Durchschnittskosten jedoch mit den Grenzkosten identisch.↩︎
Die obige Annäherung ist sehr ungenau, aber wird von einigen Autor*innen (z.B. in Carlin und Soskice 2015, Kap. 2) zur Herleitung der Phillipskurve genutzt. Ohne Approximation erhält man genau: \[\frac{w^{ws}_{r} - w_{r,-1}}{w_{r,-1}} \approx \frac{\Delta w_{n}}{w_{n,-1}} - \frac{\Delta P}{P_{-1}} \] \[\frac{\Delta w_{n}}{w_{n,-1}} = \pi + \frac{k}{w_{r,-1}}(L-L^N)\]↩︎
Vgl. Baccaro und Rei (2007), Baker u. a. (2004), Bassanini und Duval (2006), Stockhammer und Sturn (2011), Storm und Naastepad (2012, Kap. 2), Truger und Hein (2003), Vergeer und Kleinknecht (2012).↩︎