Kapitel 12 Vom 3-Gleichungen Modell des Neuen Konsenses in der Makroökonomik zum post-keynesianischen Modell
Wir können nun schrittweise Änderungen des 3-Gleichungen-Modells des NKM vornehmen, um so zu zeigen, dass sich hiermit die im letzten Kapitel zusammen gefassten Politikimplikationen entsprechend ändern. Die vollständige Kombination der zu ändernden Annahmen generiert dann ein einfaches Modell, welches einem post-keynesianischen Verständnis der Makroökonomik entspricht und zu einem völlig anderen Set von Politikimplikationen führt.
Die wesentlichen Eigenschaften der post-keynesianischen Makroökonomik lassen sich wie folgt zusammenfassen:43
- der Fokus auf eine monetäre Produktionstheorie, nach der Geld kurz- und langfristig nicht neutral ist;
- die kurz- und langfristige Dominanz des Prinzips der effektiven Nachfrage;
- die Bedeutsamkeit des Konzepts fundamentaler Unsicherheit;
- das Beharren darauf, dass ökonomische Prozesse in historischer, irreversibler Zeit geschehen und damit größtenteils pfadabhängig sind; und
- die Bedeutung von Verteilungsfragen und -konflikten für ökonomische Ergebnisse.
Hieraus folgt, dass in der post-Keynesianischen Theorie das langfristige Gleichgewicht, also die inflationsstabile Beschäftigung und die NAIRU, nicht unabhängig von der Nachfrageseite der Modellökonomie ist. Im Folgenden beschäftigen wir uns zunächst beispielhaft mit verschieden Kanälen, über welche die NAIRU von der Nachfrageseite und damit von der Geld-, Fiskal- und auch der Lohn-/Einkommenspolitik beeinflusst werden kann.
12.1 Endogenität der NAIRU 1: Arbeitsmarkt-Hysterese
Ein erster Kanal, welcher die NAIRU von der tatsächlichen Arbeitslosigkeit, und damit auch von der makroökonomischen Wirtschaftspolitik, abhängig macht, kann durch eine deutlich Verlangsamung der Anpassung der Arbeitslosigkeit an das Niveau der NAIRU entstehen. Hohe Arbeitslosenquoten in den Anpassungsphasen können Teile der Langzeitarbeitslosen davon entmutigen, sich überhaupt an der Arbeitssuche zu beteiligen. Dies wird die Verhandlungsposition der weiterhin abhängig Beschäftigten verbessern und damit die NAIRU erhöhen.
Diese Form der Arbeitsmarkt-Hysterese wurde bereits von neu-keynesianischen Autoren (Blanchard und Summers 1987; Blanchard und Summers 1988; Ball 1999) diskutiert und ist jüngst wieder von Ball (2014) und Stockhammer und Sturn (2011) nachgewiesen worden. Diese Autoren argumentierten, dass hohe Arbeitslosenquoten die NAIRU erhöhen werden. Die von der effektiven Nachfrage bestimmte Arbeitslosigkeit hat damit einen Einfluss auf die NAIRU und die inflationsstabile Beschäftigung. Damit hat nun auch die Geldpolitik einen potentiellen Einfluss auf das langfristige allgemeine Gleichgewicht und ist damit langfristig nicht mehr neutral. Post-Keynesianer würden jedoch argumentieren, dass auch das Gegenteil zuträfe, wenn die Arbeitslosigkeit dauerhaft unter der NAIRU läge (vgl. z.B. Hein und Stockhammer 2009). Zuvor nicht arbeitssuchende Arbeitslose würden ermutigt, am Arbeitsmarkt teilzunehmen, was die Lohnforderungen der abhängig Beschäftigten dämpfen und damit die NAIRU verringern würde. Die Abhängigkeit der NAIRU von der Nachfrageseite gilt im post-keynesianischen Modellrahmen also sowohl für negative also auch für positive Konjunkturbewegungen.
Eine Form der Arbeitsmarkt-Hysterese kann auf einfache Weise in das in den vorherigen Kapiteln entwickelte 3-Gleichungen-Model des NKM integriert werden. In Abbildung 12.1 ist dargestellt, wie sich die \(WS\)-Kurve durch eine Erhöhung der Konfliktorientierung der abhängig Beschäftigten, \(k\), gegen den Uhrzeigersinn dreht. Die Erhöhung von \(k\) wurde dabei dadurch hervorgerufen, dass die Arbeitslosenquote nach einem Nachfrageschock für einige Zeit unter der ursprünglichen NAIRU lag. Die Drehung der \(WS\)-Kurve führt dann zu einem neuen Verteilungsgleichgewicht links vom alten Gleichgewicht und damit zu einer neuen, nun höheren NAIRU.
Wir veranschaulichen dies nachfolgend im „Hysterese“-Szenario. Zu Beginn der Simulation wird die Ökonomie beispielsweise von einem positiven Nachfrageschock erfasst. Die Zentralbank fährt mit der üblichen restriktiven Reaktion auf einen positiven Nachfrageschock fort, indem sie die Arbeitslosenquote temporär über das NAIRU-Niveau hebt, um die Inflationserwartungen umzukehren. Wenn in diesem Szenario die Arbeitslosenquote jedoch mehr als eine Periode lang höher als die NAIRU ist, setzt nun der Hysterese-Mechanismus ein und ein Teil der arbeitslosen Erwerbsbevölkerung wird sich von der aktiven Arbeitssuche zurückziehen, wie oben beschrieben. Dadurch verbessert sich die Verhandlungsposition der abhängig Beschäftigten, \(k\), die inflationsstabile Beschäftigung, \(L^N\), und der dazugehörig Output fallen somit und die NAIRU steigt (\(L^N\) verschiebt sich also nach links). Die Zentralbank bemerkt in unserem einfachen Beispielszenario die Veränderung der inflationsstabilen Beschäftigung, zielt auf die neue NAIRU und passt den optimalen Pfad zum Inflationsziel entsprechend an. Dieser neue Pfad wird durch eine Verschiebung der \(MR\)-Kurve angezeigt.
12.2 Endogenität der NAIRU 2: Zinselastischer Mark-Up
Ein weiterer Endogenitätskanal für die inflationsstabile Beschäftigung und die NAIRU ergibt sich daraus, dass wir nun den Effekt von Zinsänderungen auf die Produktionskosten der Unternehmen und damit auf deren Zielreallohnsatz berücksichtigen (vgl. Hein (2004; 2006; 2023, Kap. 6), Hein und Stockhammer (2009; 2011)). Die Zinsänderungen ergeben sich dabei als Ergebnis der Reaktion der Zentralbank auf Nachfrage- oder Angebotsschocks.
In unserer Preisgleichung (9.8) muss der Mark-up der Unternehmen nicht nur die Gewinne pro Stück decken, sondern auch alle allgemeinen Produktionskosten pro Stück, die nicht aus den Lohnzahlungen resultieren. Da Zinskosten auch als Produktionskosten für die Kapitalbeschaffung anfallen, erscheint es plausibel anzunehmen, dass auch die Zinskosten einen Einfluss auf den Mark-up haben. Unter dieser Annahme wird sich also eine Änderung des Zinsniveaus zumindest mittelfristig auch auf die Preisgestaltung der Unternehmen auswirken. So wird beispielsweise eine von den Unternehmen als dauerhaft empfundene positive Zinsänderung zu einem Aufwärtsdruck auf den Mark-up führen. Unter dieser Annahme würde der Mark-up so zu einer Funktion des von der Zentralbank gesetzten Nominalzinssatzes werden:
\[\begin{equation} m = m(i) \tag{12.1} \end{equation}\]
Dabei ist es nicht unwahrscheinlich, dass Unternehmen den Mark-up erst mit einer gewissen Verzögerung an einen geänderten Zinssatz anpassen, da sie zunächst abwarten, ob die Zinsänderung dauerhaft ist. Der Grund für dieses Warten mag darin liegen, dass die Unternehmen die Kunden nicht durch zu hastige Preisanpassungen abschrecken wollen oder das die gestiegenen Zinskosten erst verzögert für die Unternehmen spürbar werden.
Die Zinsreagibilität des Mark-ups bedeutet nun auch, dass sich die \(PS\)-Kurve nach einer Zinssatzerhöhung in Folge eines positiven Nachfrageschocks nach einer gewissen Zeit nach unten verschieben wird, wie Abbildung 12.2 zeigt. Hierdurch fällt das inflationsstabile Beschäftigungsniveau, die NAIRU steigt, und es kommt erneut zu Lohn-Preis-Lohn Spiralen, wenn die aktuelle Beschäftigung über der neuen inflationsstabilen Beschäftigung liegt. Aufgrund des höheren Mark-ups und des geringeren Zielreallohnsatzes der Unternehmen, der letztlich auch den realisierten Reallohnsatz bestimmt, hat die Zinspolitik der Zentralbank nun einen indirekten Einfluss auf den Reallohnsatz und damit auf die Einkommensverteilung zwischen den Löhnen auf der einen Seite und den Profiten, bestehend aus einbehaltenen Profiten und ausgeschütteten Zinszahlungen, auf der anderen Seite. Zudem beeinflusst sie mit ihrer Zinspolitik langfristig die inflationsstabile Beschäftigung und damit die NAIRU.
Als vereinfachte modelltechnische Umsetzung gehen wir im interaktiven Szenario „Zinselastischer Mark-Up“ davon aus, dass der Preisaufschlag \(m\) zu einer Funktion eines gleitenden Durchschnittswertes des Zinssatzes wird:
\[\begin{equation} m=m(\bar{i}) \tag{12.2} \end{equation}\]
Die zugrundeliegende Annahme ist dabei, dass die Unternehmen, sobald sie eine Änderung des Zinssatzes als permanent empfinden, versuchen werden, ihre (Netto-)Profitmargen durch Anpassung des Preisaufschlages zu verteidigen. Unterstellen wir ein solches Verhalten, dann ergibt sich für die Zentralbank ein Problem: Ihre Zinspolitik, die eigentlich auf eine kurzfristige Nachfragesteuerung ausgerichtet ist, hat nun langfristig nicht-intendierte Effekte auf die Preissetzung, damit auf die Inflationsrate und auf die NAIRU selbst. Im Falle zu hoher Inflation kann eine restriktive Geldpolitik nun langfristig zu einer höheren NAIRU beitragen. Das heißt, die Geldpolitik ist aufgrund von nicht-intendierten Effekten im Vergleich zur NKM-Version des 3-Gleichungen Modells wesentlich weniger effizient und hat auch langfristige realwirtschaftliche Auswirkungen. Im „Zinselastischer Mark-Up“-Szenario unten wird der optimale Anpassungsprozess in Reaktion auf einen positiven Nachfrageschock durch das Anpassen des Preisaufschlags der Unternehmen an gestiegene Zinskosten gestört. Die Änderung des Preisaufschlages führt zu einer Senkung der inflationsstabilen Beschäftigung und zu einer Erhöhung der NAIRU, wirkt sich direkt auf das Preisniveau aus und führt zu einem zweiten Inflationsschub. Die Zentralbank muss den Zinssatz daraufhin erneut anheben. Durch diese Berücksichtigung des Kosteneffektes von Zinssatzänderungen muss die Zentralbank hier also eine restriktivere Zinspolitik verfolgen, die sich nun auch über die kurze Frist hinaus gesamtwirtschaftlich auswirkt. Eine stabile Inflation ist nur bei einer höheren langfristigen Arbeitslosenquote möglich.
Zusammenfassend zeigt dieses Szenario, dass eine restriktive Geldpolitik, sobald die Zinssensitivität des Mark-ups in das Modell aufgenommen wird, den Nebeneffekt hat, dass das inflationsstabile Beschäftigungsniveau sinkt und die NAIRU damit im neuen allgemeinen Gleichgewicht steigt. Die Geldpolitik ist damit im Vergleich zum NKM-Modell daher auf lange Sicht nicht mehr “neutral”. Das alleinige Verlassen auf die Zinspolitik zur Feinsteuerung der Konjunktur führt zu langfristigen Beschäftigungsverlusten - und bei starken Auswirkungen auf den Aufschlag möglicherweise nicht einmal zu einem stabilen langfristigen Gleichgewicht.44
12.3 Die NAIRU als Korridor: ein horizontales Element in der Phillipskurve
Für die bisher diskutierte lineare Lohnsetzungskurve und die dazugehörige linear steigende kurzfristige Phillipskurve haben wir angenommen, dass die im Verteilungsungleichgewicht hervorgerufenen steigenden (oder fallenden) Inflationsraten den Zielreallohnsatz der abhängig Beschäftigten nicht beeinflussen. Diese Annahme ist plausibel, wenn die abhängig Beschäftigten davon ausgehen, dass sie mit ihren individuellen oder unternehmensspezifischen Nominallohnerhöhungen keinen Einfluss auf die gesamtwirtschaftliche Inflationsrate haben. Dies wird insbesondere bei stark dezentralisierten und unkoordinierten Lohnverhandlungen der Fall sein, bei denen die Lohnverhandlungen individuell oder bestenfalls auf Unternehmensebene erfolgen. Sobald die Lohnverhandlungen und die -abschlüsse jedoch in Branchen erfolgen und ggf. zwischen den Branchen koordiniert werden (z.B. durch eine Lohnführerschaft einer gewerkschaftlich besonders gut organisierten Branche, wie z.B. der Metallindustrie mit der IG Metall in Deutschland), können die Gewerkschaften die Effekte der von ihnen durchgesetzten Nominallohnerhöhungen auf die gesamtwirtschaftliche Inflationsrate mit ins Kalkül ziehen. Wenn sie nun steigende Inflationsraten vermeiden wollen, um z.B. im preislichen Wettbewerb nicht gegenüber der ausländischen Konkurrenz zurückzufallen oder um bei steigenden Inflationsraten Zinserhöhungen durch die Zentralbank zu verhindern, müssen sie eine Mitverantwortung für die Inflationsrate übernehmen und das Nominallohnwachstum - bei konstanter Arbeitsproduktivität - an die Zielinflationsrate anpassen. Dies ist gleichbedeutend damit, dass sie ihren Zielreallohnsatz an das Niveau anpassen, das durch die Preissetzung der Unternehmen möglich ist, d.h. an den Zielreallohnsatz der Unternehmen.
Innerhalb eines gewissen „normalen“ Beschäftigungsbereiches stimmen dann die Reallohnziele der abhängig Beschäftigten mit den aus der Preissetzung hergeleiteten Reallohnzielen der Unternehmen überein, wie in Abbildung 12.3 zu sehen ist, sodass innerhalb dieses Intervalls keine Inflations- oder Disinflationsschübe mehr erfolgen (vgl. Hein 2004; 2006; 2023, Kap. 6). Diese gesamtwirtschaftliche Koordination der Lohnsteigerungen wird selbst bei Vorliegen der dafür erforderlichen Bedingungen (starke Gewerkschaften, starke Unternehmensverbände, Verhandlungen auf Branchen- oder gesamtwirschaftlicher Ebene mit effektiver Koordination) nur innerhalb eines „normalen Korridors“ von Beschäftigungsniveaus und Arbeitslosenquoten funktionieren.
Steigt das Beschäftigungsniveau über und fällt die Arbeitslosenquote unter ein bestimmtes Niveau, bei dem dann die Unternehmen um die knappen Arbeitskräfte konkurrieren, wird das Nominallohnwachstum über die Zielinflationsrate hinaus ansteigen und so einen Prozess akzelerierender Inflation anstoßen, wie in Abbildung 12.4 zu sehen ist. Umgekehrt, fällt das Beschäftigungsniveau unter und steigt die Arbeitslosenquote über ein bestimmtes Niveau, bei dem die abhängig Beschäftigten bereit sind, Nominallohnzugeständnisse zu machen, um ihre Arbeitsplätze nicht zu verlieren, dann wird das Nominallohnwachstum unter die Zielinflationsrate fallen und es wird zu den bekannten Disinflations- und Deflationsprozessen kommen.
Stimmen Zielreallohnsätze von Unternehmen und Gewerkschaften für einen bestimmten Beschäftigungskorridor überein, so gibt es nun auch ein horizontales Element in der kurzfristigen Phillips-Kurve. Eine konstante Inflationsrate ist also mit allen Beschäftigungsniveaus innerhalb dieses horizontalen Intervalls verträglich, und die NAIRU wird zu einem Korridor. Die Phillips-Kurve wird daher zu einer Funktion mit drei Elementen:
\[\begin{equation} \pi = \begin{cases} \pi_{-1}+k \left( L^* - L^{N_{\text {u}}} \right) & L^*<L^{N_{\text {u}}} \\ \pi_{-1} & L^{N_{\text{u}}} < L^* < L^{N_{\text{o}}} \\ \pi_{-1}+k\left(L^* - L^{N_{\text {o}}}\right) & L^* >L^{N_{\text {o}}} \end{cases} \tag{12.3} \end{equation}\]
Der obere Teil der Abbildung 12.5 zeigt wie dank der Einführung des horizontalen Elements in die kurzfristige Phillipskurve eine konstante Inflationsrate mit unterschiedlichen Beschäftigungsniveaus und verschiedenen Arbeitslosenquoten vereinbar ist. Mit dieser Modifikation ist die NAIRU nun nicht mehr ein definitiver Wert, sondern ein Bereich von Werten. Sobald die Beschäftigung jedoch über (unter) die Grenzen dieses Beschäftigungskorridors fällt, beginnt die Inflation zu steigen (zu sinken).
Neben einer erfolgreichen gesamtwirtschaftlichen Koordinierung von Lohnverhandlungen kann eine teilweise horizontale Phillipskurve noch aus einem anderen Grund zustande kommen. Nach tiefen Rezessionen mit hoher Arbeitslosigkeit können Beschäftigte und Gewerkschaften in der folgenden wirtschaftlichen Erholungsphase mit steigender Beschäftigung möglicherweise wenig oder gar nicht konfliktorientiert sein, wodurch dann insbesondere eine Lohnbeschleunigung im Aufschwung verhindert wird. Bei adaptiven Erwartungen kann die Wirtschaft dann eine anhaltend niedrige Inflationsrate aufweisen, selbst wenn die Beschäftigung nach einer Rezession steigt.
Übernehmen wir nun die Phillipskurve mit dem horizontalen Element in das 3-Gleichungen-Modell, so lässt sich zeigen, dass die politische Zuordnung von Geld-, Fiskal- und Lohn-/Einkommenspolitik nicht so strikt getrennt werden kann, wie es der NKM-Ansatz vorschlägt. Es ergibt sich dabei eine Veränderung des gesamtwirtschaftlich als sinnvoll erscheinenden Politik-Mix. Mit einem horizontalen Element in der Phillipskurve eröffnet sich nun für die Zentralbank die Möglichkeit, geringere Arbeitslosenquoten als im NKM zu tolerieren, und eine aktive Fiskalpolitik kann nun dazu beitragen, dass ein durch Lohnkoordination erhöhtes inflationsstabiles Beschäftigungsniveau durch eine geeignete Nachfragesteuerung auch dauerhaft erreicht wird.
Diese Veränderung hat tiefgreifende Auswirkungen auf den vorgeschlagenen makroökonomischen Politik-Mix. Während im NKM-Ansatz der Abbau von Arbeitsmarktrigiditäten - die Fragmentierung und Dezentralisierung der Lohnverhandlungen, der Abbau von Rechten der abhängig Beschäftigten und der sozialen Sicherungssysteme usw. - im Vordergrund steht, hat der post-keynesianische Ansatz alternative Maßnahmen vorgeschlagen. Innerhalb des postkeynesianischen Politikrahmens sollte die Lohnkoordination auf das Erreichen des Inflationsziels abzielen. Anstatt ihre Entscheidungen über die Nominallohnhöhe auf der Grundlage der erwarteten (d.h. verzögerten) Inflation zu treffen, sollten Beschäftigte und Unternehmen die Nominallöhne in koordinierter Weise entsprechend der Rate des mittelfristigen Produktivitätswachstums plus dem Inflationsziel erhöhen. Dies würde verhindern, dass die Phillipskurve nach einem wirtschaftlichen Abschwung (Aufschwung) auf einem niedrigen (hohen) Niveau verharrt. Die postkeynesianische um die Lohnpolitik erweiterte Phillipskurve wird so zu:
\[\begin{equation} \pi = \begin{cases} \pi^{T}+k \left( L - L^{N_{\text {u}}} \right) & L<L^{N_{\text {u}}} \\ \pi^{T} & L^{N_{\text{u}}} < L < L^{N_{\text{o}}} \\ \pi^{T}+k\left(L-L^{N_{\text {o}}}\right) & L>L^{N_{\text {o}}} \end{cases} \tag{12.4} \end{equation}\]
In diesem Modell scheint die effektive Koordinierung von Lohnverhandlungen ein überlegenes Politikinstrument zu sein, wenn es darum geht, die Inflation im Aufschwung des Konjunkturzyklus zu dämpfen. Darüber hinaus erleichtert eine effektive Koordinierung der Lohnverhandlungen die Stabilisierung der Wirtschaft während eines Abschwungs und verhindert schädliche Disinflations- und Deflationsprozesse. Dies liefert die Grundlage für eine aktive Steuerung der Gesamtnachfrage durch die Fiskal- und Geldpolitik, um ein hohes Niveau nichtinflationärer Beschäftigung zu erreichen.
Im interaktiven Szenario mit post-keynesianischer Phillipskurve kann eine vereinfachte Version dieser Politikempfehlungen simuliert werden. In diesem Szenario wird die Ökonomie erneut von einem permanenten Nachfrageschock getroffen. In der ersten Runde werden die Inflationserwartungen der abhängig Beschäftigten adaptiv gebildet. Wenn der Nachfrageschock groß genug ist, um die Beschäftigung über (unter) die obere Grenze (die untere Grenze) des horizontalen Elements zu bringen, wird eine beschleunigte (verlangsamte) Inflation beobachtet. Es kann nun mit der Lohn-, Steuer- und/oder Geldpolitik reagiert werden, um die Ökonomie auf das Inflationsziel und ein hohes Beschäftigungsniveau zu bringen. Bei der Auswahl der Lohnpolitik innerhalb des horizontalen Korridors der Phillipskurve gehen die Tarifparteien von einer post-keynesianischen Lohnregel aus, d.h. die Lohnstückkosten steigen mit der Zielinflationsrate. Da das Produktivitätswachstum in unserer Modellökonomie gleich null ist, bedeutet dies, dass die Nominallöhne mit der angestrebten Inflationsrate steigen. Außerhalb des Korridors ist die Lohnkoordination jedoch nicht effektiv, was zu einer anhaltenden Abweichung der Inflation von der Zielvorgabe führt. In diesem Fall muss die Nachfrage durch die Fiskal- und/oder Geldpolitik gesteuert werden, um die Ökonomie wieder auf das horizontale Element der Phillipskurve zurückzuführen.
Wesentlich ist, dass das Szenario die entscheidende Rolle der Koordinierung der makroökonomischen Politik für den Anpassungspfad der Ökonomie nach dem Schock zeigt: Wenn der Schock die Inflation erhöht (senkt) und die Nachfragesteuerung mit der post-keynesianischen Lohnpolitik im horizontalen Bereich der Phillipskurve kombiniert wird, wird es nicht notwendig sein, die Beschäftigung unter (über) das geringste (höchste) inflationsstabilisierende Niveau zu bringen, um das Inflationsziel zu erreichen. Es genügt, durch die Geld- oder die Fiskalpolitik die Beschäftigung zurück in den inflationsstabilen Korridor zu bringen.
Würde zudem die Annahme eines horizontalen Elements in der Phillipskurve mit der Annahme eines zinselastischen Mark-ups kombiniert, würde der klare Fokus des Modells des NKM auf die Geldpolitik zur Übernahme der Rolle der Nachfragesteuerung vollständig aufgegeben werden müssen. Dann wird die Nachfragesteuerung durch die Fiskalpolitik notwendig, um negative Auswirkungen von Zinserhöhungen im Aufschwung zu vermeiden. Eine Geldpolitik, die auf niedrige und stabile Realzinsen verpflichtet ist (z.B. in Höhe der Rate des langfristigen Produktivitätswachstums), kann zudem zur Verringerung der NAIRU beitragen und damit mehr Spielraum für eine expansive Fiskalpolitik und höhere Beschäftigung schaffen. Daher wäre im post-keynesianischen Rahmen die Lohn- und Einkommenspolitik für die nominale Stabilisierung verantwortlich, während vor allem die Fiskalpolitik ein hohes Beschäftigungsniveau mit dem Ziel der realen Stabilisierung verfolgen sollte. Die Geldpolitik sollte diesen Politik-Mix durch eine Politik niedriger Zinssätze unterstützen. Im starken Gegensatz zur NKM Politik erfordert der post-keynesianische Politikrahmen ein hohes Maß an Lohnkoordination, starke Unternehmensorganisationen und starke Gewerkschaften innerhalb organisierter Arbeitsmärkte, in denen die Akteure die Verantwortung der Lohnverhandlungen für die nominale Stabilisierung anerkennen und wahrnehmen können.
12.4 Wirtschaftspolitik im post-keynesianischen Modell
Wir können nun abschließend den Politik Mix (oder das Assignment), der sich aus einem post-keynesianischen makroökonomischenn Modell ergibt, kurz zusammen fassen (vgl. auch Arestis 2013; Hein und Stockhammer 2009):
Die Geldpolitik der Zentralbank sollte niedrige Zinssätze anstreben. Zinssätze beeinflussen insbesondere die Einkommensverteilung und wirken sich hierüber dann auf die Makroökonomie aus. Realzinssätze sollten daher nicht über das reale Outputwachstum bzw. langfristig nicht über das Produktivitätswachstum hinausgehen, weil nur dann die Verteilung zwischen Löhnen, einbehaltenen Profiten und Zinseinkommen konstant bleibt. Nominalzinssätze sollten entsprechend nicht größer als das nominale Outputwachstum sein.45
Die Arbeitsmarkt-, Lohn-, und Einkommenspolitik beeinflusst inbesondere das Preisniveau/die Inflation und die Verteilung. Flexible Nominallöhne destabilisieren die Ökonomie eher, da sie Disinflations- und Deflationsprozesse, aber auch Inflationsprozesse kumulativ verstärken. Deshalb sollte die Lohnpolitik auf ein stabiles Lohnstückkostenwachstum in höhe der Zielinflationsrate abzielen. Die Nominallöhne sollten also genauso stark wachsen wie die Summe aus Produktivitätswachstum und Inflationsziel. Hierfür sind gesamtwirtschaftlich koordinierte Lohnverhandlungen mit starken Gewerkschaften und starken Unternehmensverbänden erforderlich.
Die Fiskalpolitik erhält im post-keynesianischen Politik-Mix eine aktive Rolle und ist für die reale Stabilisierung auf kurze und lange Sicht zuständig. Hierfür sind politisch gesetzte Defizitziele für den Staatshaushalt und Schuldenstandsziele nicht zuträglich. Die Haushaltsdefizite (oder -überschüsse) des Staates sollten vielmehr so gestaltet werden, dass sie eine höchstmögliche inflationsstabile Beschäftigung nachfrageseitig ermöglichen. Damit der Staat auch bei hohen Defiziten und hoher Staatsverschuldung handlungsfähig bleibt, braucht er die Unterstützung der Zentralbank, die durch Interventionen in den Finanzmarkt niedrige Zinsen auf die Staatsschuld ermöglicht.46
Koordination der Politikbereiche: Da die wirtschaftspolitischen Akteure, die Zentralbank, der Staat durch seine Fiskalpolitik und die Tarifparteien mit dem Einsatz ihrer Instrumente kurz- und langfristig sowohl einen Einfluss auf die Beschäftigung als auch auf die Inflation haben, muss die Wirtschaftspolitik zwischen ihnen abgestimmt und koordiniert werden. Ein klare Zuordnung (Assignment) von Akteur, Instrument und Ziel, wie im NKM-Ansatz in der langen Frist, ist im post-keynesianischen Ansatz nicht möglich.
References
Zur Einführung in die post-keynensianische Theorie vgl. z.B. Hein und Lavoie (2019), King (2015), Lavoie (2006), sowie die Beiträge in Hein und Stockhammer (hg) (2011). Eine Übersicht über die Grundlagen des Post-Keynesianismus und die Entwicklungen in der post-keynesianischen Makroökonomik findet sich in Hein (2017). Hein (2023) und Lavoie (2014) sind ausführliche Lehrbücher für Fortgeschrittene. Post-keynesianische makroökonomische Modelle mit den entsprechenden Politikempfehlungen wurden z.B. von Arestis (2013) und von Hein (2023, Kap. 5–6), Hein und Stockhammer (2009), Hein und Stockhammer (2011) vorgelegt.↩︎
Siehe dazu z.B. Hein (2006; 2023, Kap. 5), Hein und Stockhammer (2009).↩︎
Zudem sollte die Zentralbank den Finanzsektor durch den Einsatz anderer Instrumente stabilisieren (Kreditgeber letzter Instanz, auf Englisch “Lender of last resort”, Kreditkontrollen, Garantien von Staatsschulden, um den Staat handlungsfähig zu halten).↩︎
Durch seine Steuer- und Sozialpolitik wirkt der Staat zudem auch auf die Verteilung des verfügbaren Einkommens ein. Eine progressive Besteuerung verbessert dabei die automatischen Stabilisatoren in Auf- und Abschwung.↩︎