Kapitel 2 Die gesamtwirtschaftliche Nachfrage: Einleitung
In diesem und in den folgenden Kapiteln werden wir uns mit der aggregierten Nachfrageseite unserer Modellökonomie befassen. Viele Ökonom*innen sind sich heutzutage darüber einig, dass die effektive Nachfrage zumindest in der kurzen Frist die bestimmende gesamtwirtschaftliche Größe ist. Schwankungen der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage führen zu Anpassungsprozessen auf Produktions-, Einkommens- und Ausgabenseite der Ökonomie und lösen dadurch Konjunkturbewegungen aus. Die Nachfrage selbst hängt aber wiederum von einer Vielzahl von Faktoren ab, da sie sich aus der Gesamtheit der Ausgabenentscheidungen aller Akteur*innen einer Ökonomie zusammensetzt. Die aggregierte effektive Nachfrage ist damit die Summe der Ausgaben der privaten Haushalte, der Unternehmen und des Staates. In offenen Volkswirtschaften mit Handelsbeziehungen zum Ausland kommt die ausländische Nachfrage nach inländischen Gütern, also die Exporte, hinzu, abzüglich der inländischen Nachfrage nach ausländischen Gütern, der Importe.
Warum „effektive” Nachfrage?
Wir sprechen von der „effektiven“ Nachfrage, wenn die Nachfrage nach einem Produkt nicht nur hypothetisch vorhanden ist (z.B. das prinzipielle Verlangen ein Produkt nachzufragen), sondern auch effektiv am Gütermarkt durch Ausgabenentscheidungen spürbar wird. John Maynard Keynes (1936, Kap. 3) hat die effektive Nachfrage als die von den Unternehmen auf dem Gütermarkt erwartete Nachfrage nach ihren Produkten bezeichnet. Sie bildet daher eine Grundlage für die Produktionsplanung der Unternehmen.
Die Nachfrageseite eines makroökonomischen Modells für eine geschlossene Volkswirtschaft dreht sich also um die aggregierten Ausgabenentscheidungen der Haushalte, Unternehmen und des Staates und damit darum, wie sich diese Entscheidungen auf die makroökonomische Aktivität auswirken. Im ersten Schritt unserer Analyse konzentrieren wir uns insbesondere darauf, wie die effektive Nachfrage bestimmt werden kann und wie sie sich auf das gesamtwirtschaftliche Produktionsvolumen und das aggregierte Einkommen auswirkt. Eine Veränderung der Güternachfrage und damit des Produktionsvolumens wirkt sich dann wiederum auf die Nachfrage nach Arbeit in einer Volkswirtschaft aus. Damit ist die effektive Nachfrage auch für die Beschäftigung von immenser Bedeutung. Ob eine Wirtschaft nahe der Vollbeschäftigung ist oder stattdessen von Arbeitslosigkeit geplagt wird, hängt also, zumindest kurzfristig, stark von der effektiven Nachfrage auf dem Gütermarkt ab.
Die Bedeutung der Nachfrage: Uneinigkeit in der Makroökonomik
Wie wir später sehen werden, ist die mittel- bis langfristige Rolle der Nachfrage für den Zustand einer Ökonomie in der Makroökonomik stark umstritten. Eine grobe Aufteilung der verschiedenen Sichtweisen kann entlang zweier grundsätzlicher makroökonomischer Paradigmen vorgenommen werden, dem Keynesianismus und der Neoklassik.
Die Abgrenzung dieser grundsätzlichen Ansätze in der Makroökonomik kann manchmal für Verwirrung sorgen, da auch Mischformen von Neoklassik und Keynesianismus existieren. In diesem Buch unterscheiden wir zwischen dem traditionellen Keynesianismus bzw. dem Post-Keynesianismus und dem stark durch die Neoklassik beeinflussten Neu-Keynesianismus. Während tradtitionell keynesianische und post-keynesianische Ökonom*innen der effektiven Nachfrage auch langfristig eine entscheidende Bedeutung zuschreiben, sehen neu-keynesianisch orientierte und vor allem neoklassische Ökonomen*innen die langfristige wirtschaftliche Entwicklung sehr viel stärker durch angebotsseitige Faktoren bestimmt. Nichtsdestotrotz spielen sowohl die Nachfrage, als auch das Angebot in den meisten makroökonomischen Theorien eine wichtige Rolle.
Das Ziel dieses Buches besteht unter anderem darin, aufzuzeigen, wie genau sich die post-keynesianische und die neu-keynesianische Sicht auf die Determinanten und die makroökonomische Bedeutung der effektiven Nachfrage unterscheiden. Allerdings wird dies in Gänze erst in späteren Kapiteln klar werden, wenn wir ein neu-keynesianisches und ein post-keynesianisches Gesamtmodell von Angebot und Nachfrage gegenüberstellen. Davor wollen wir die kurzfristigen Determinanten der Nachfrage, der Produktion, der Beschäftigung und des Preisniveaus bzw. der Inflation beleuchten.
Weiterführende Literatur zur Gegenüberstellung verschiedener makroökonomischer Paradigmen findet sich zum Beispiel in Heine und Herr (2013) und Snowdon und Vane (2005).
Die Definition der effektiven Nachfrage können wir auch mit genauerem Bezug auf die verschiedenen Ausgaben in der Ökonomie aufstellen. Dadurch können wir die Nachfrageseite unserer Ökonomie und ihre Einflussgrößen in einem einfachen Modell erfassen. Die gesamtwirtschaftliche reale Güternachfrage, \(Y_N\), ergibt sich aus der Summe der realen Ausgaben, welche die einzelnen Akteure einer Ökonomie (private Haushalte, Unternehmen, Staat) für im Inland hergestellte Waren und Dienstleistungen tätigen. Sie ist per Definition identisch mit dem Bruttoinlandprodukt (BIP) nach der Verwendungsrechnung, welches sich in einer geschlossenen Volkswirtschaft aus der Summe von aggregiertem realem Konsum, \(C\), den realen Bruttoinvestitionsausgaben, \(I\), und den realen Staatsausgaben, \(G\), berechnen lässt:
\[\begin{equation} Y_N = C + I + G \tag{2.1} \end{equation}\]
In der Realität trifft Gleichung (2.1) und die Darstellung in der obigen Abbildung natürlich nur auf die Weltwirtschaft als Ganzes zu, da sie eine geschlossene Volkswirtschaft ist. Wenn wir aber nicht den gesamten Planeten Erde, sondern nur einzelne Regionen oder Länder betrachten, müssen wir eigentlich immer von einer offenen Ökonomie ausgehen. In diesem Fall werden die Exporte, \(X\), zur effektiven Inlandsnachfrage eines Landes als Auslandsnachfrage nach inländischen Waren addiert und die Importe, \(M\), als Inlandsnachfrage nach ausländischen Waren subtrahiert. Die Exporte minus Importe werden als Außenbeitrag, \((X-M)\), bezeichnet. Die aggregierte effektive Nachfrage der offenen Ökonomie ergibt sich dann als:
\[\begin{equation} Y_N = C + I + G + (X-M) \tag{2.2} \end{equation}\]
Wir werden uns hier allerdings zunächst auf die Modellierung der geschlossenen Ökonomie beschränken. So können wir uns zunächst auf die grundlegenden Mechanismen und Wirkungszusammenhänge unserer Modelle konzentrieren.
Für die geschlossene Ökonomie in Gleichung (2.1) bilden der aggregierte private Konsum, die privaten Investitionen und die Staatsausgaben für Waren und Dienstleistungen die einzelnen Komponenten der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage. In den folgenden Kapiteln werden wir uns mit diesen Nachfragekomponenten im Detail befassen und einige ihrer zentralen Determinanten diskutieren. Aus den verschiedenen Einflussfaktoren auf den Konsum, die Investitionen und die Staatsausgaben werden wir dann zunächst einfache Verhaltensgleichungen für \(C\) und \(I\) herleiten, die noch keine gesamtwirtschaftlichen Wechselwirkungen enthalten. In Kapitel 7 werden wir dann zu Gleichung (2.1) zurückkommen, um ein erstes makroökonomisches Modell der gesamten Nachfrageseite einer geschlossenen Ökonomie zu entwickeln, das dann auch die Wechselwirkungen zwischen den verschiedenen Nachfragekomponenten enthält (z.B. über die Veränderung des Einkommens). Hier werden wir dann auch die Staatsausgaben als Politikvariable berücksichtigen.